Das Buch für Patienten mit Sehverlust oder Erblindung
Das Buch für Menschen mit Sehverlust, Sehbehinderung, Erblindung bzw. Sehschwäche.
Sie leiden an Sehverlust, Sehbehinderung, Erblindung bzw. Sehschwäche oder sind davon bedroht? Ihre Retina oder Ihr Sehnerv sind in ihrer Funktion beeinträchtigt? Dann wird Ihnen dieses Buch helfen, Ihre Lage zu verstehen und zu verbessern. Brillen oder Linsen können zwar sehr gut optische Probleme wie Kurz- oder Weitsichtigkeit ausgleichen; Schädigungen der visuellen Anteile des Nervensystems dagegen galten bislang als nicht therapierbar.
Dieses Buch entführt Sie in ein wissenschaftliches Abenteuer: Sie entdecken die Plastizität des Gehirns, und Sie lernen alte und neue Methoden kennen, Ihr Sehvermögen medizinisch und psychologisch zu stärken. Bernhard Sabel blickt auf Sie als Person, auf den Menschen »hinter den Augen«, und er gibt praktische Tipps, wie Sie das Potenzial Ihres Restsehens entfalten und trotz Ihrer Einschränkungen ein glückliches Leben genießen können. Wieder sehen hilft Ihnen, Ihre Haltung zum Sehverlust zu verändern und die Fähigkeiten zu stärken, die Sie noch besitzen. Entdecken Sie neue und erhellende Einsichten und die verborgenen Potenziale hinter dem dunklen Vorhang des Sehverlusts.
Wenn dieses Buch Ihr Interesse geweckt hat, steht vermutlich Ihnen oder jemandem, der Ihnen eng verbunden ist, ein spürbarer Sehverlust bevor. Vielleicht liegt bereits ein Sehschaden vor. Normal Sehende können sich kaum die Einschränkungen vorstellen, die mit einem Leben mit eingeschränktem Sehen oder völliger Erblindung verbunden sind. Und doch leiden immer mehr Menschen unter einer Sehbehinderung.
Vielleicht sind Sie bereits mit den häufigsten Ursachen von Sehschwäche vertraut, mit Kurzsichtigkeit, Weitsichtigkeit und grauem Star. Bei diesen Erkrankungen sind nur die optischen Teile des Auges betroffen, die Cornea und die dahinter liegende Linse, die das Licht auf den hinteren Teil des Auges bündelt. Glücklicherweise lassen sich die meisten dieser Probleme beheben – durch Brillen und etablierte medizinische Verfahren wie etwa eine Operation zum Linsenaustausch bei grauem Star.
Doch auch andere Krankheiten können das Sehen beeinträchtigen, Erkrankungen der Nervenzellen, die die visuelle Information in Auge und Gehirn verarbeiten. Dazu gehören Glaukom, Schädigungen des Sehnervs, ischämische Optikusneuropathie, altersbedingte Makuladegeneration, diabetische Retinopathie, Amblyopie (»Schwachsichtigkeit«) sowie die Folgen eines Schlaganfalls oder einer Hirnverletzung. Bei diesen Erkrankungen ist vor allem das Nervengewebe der Retina, des Sehnervs oder des Gehirns betroffen. Doch ein bereits eingetretener Sehverlust kann nicht durch Medikamente oder einfache Operationen behoben werden. Man ging lange Zeit davon aus, dass sich das verlorene Sehen nicht mehr verbessern lässt. Es galt das bedrückende Motto: »Blind bleibt Blind«. Da Sehverluste meist erst in fortgeschrittenem Alter auftreten und immer mehr Menschen älter werden, werden in Zukunft auch immer mehr Menschen von einer Sehbehinderung durch Schädigung des Nervensystems betroffen sein. Weltweit gibt es bereits über 150 Millionen Patienten, die daran leiden – weitaus mehr als unter Demenz, einschließlich der Alzheimer-Krankheit.
Dieses Buch soll Ihnen dabei helfen, Sehverluste besser zu verstehen, die durch eine Nervenzellschädigung der Retina, des Sehnervs oder des Gehirns bedingt sind. Die Unversehrtheit dieser Strukturen ermöglicht es uns, unsere schöne visuelle Welt voll zu genießen. Ignoriert man jedoch, wie wichtig das Gehirn für den Vorgang des Sehens ist und wie es mit Sehverlust umgeht, ist das, als untersuchte man bei einer kaputten Digitalkamera nur das Objektiv, ließe aber den Rest des Geräts außer Acht. Es ist, als wolle man die Funktion des Rüssels verstehen, ohne den dazugehörigen Elefanten zu kennen. Augenärzte machen sich viele Gedanken über die Linsen im Auge und das als Netzhaut oder Retina bezeichnete Nervengewebe, das nur etwa ein Gramm wiegt. Die Hirnregionen dagegen, die wie ein Computer vor allem für die Verarbeitung visueller Impulse verantwortlich sind und mehrere hundert Gramm wiegen, werden meist völlig ignoriert. Es wird Zeit, dass wir mehr über dieses Hirngewebe nachdenken, über seine Rolle bei der Sehbehinderung und darüber, wie wir es zur Verbesserung des geschädigten Sehvermögens nutzen können.
Das Gehirn ist ein wunderbarer Computer, eine Art Verstärker, der die gesamte Informationsverarbeitung übernimmt. Wie die akustischen Impulse eines Mikrofons vom Verstärker erst aufbereitet werden müssen, verstärkt auch das Gehirn die aus der Außenwelt ankommenden visuellen Signale. Die Milliarden grauer Zellen zwischen unseren Ohren filtern und übersetzen die Bilder, sie speichern sie im Gedächtnis. Das Gehirn ist wie eine Befehlszentrale, die auch alle anderen geistigen und körperlichen Prozesse kontrolliert und mit dem Sehsinn koordiniert. Wenn durch eine Erkrankung des Nervengewebes im Auge oder Sehnerv nun weniger Informationen zum Gehirn gelangen, kann es sein Talent als Verstärker besonders gut ausspielen, um den Schaden auszugleichen oder zu beheben.
Leider orientiert sich aber die traditionelle Denkweise der Augenheilkunde immer noch sehr an Defiziten. Wenn von Sehverlust die Rede ist, geht es meist um die Frage, was verloren gegangen ist. Will man dem Sehverlust erfolgreich begegnen, muss man jedoch auch darüber sprechen, wie man aus dem, was noch funktioniert, den größtmöglichen Nutzen ziehen kann. Zu oft geht es um Stichworte wie Mangel, Behinderung, Schwäche. Anstatt uns alleine auf den Schaden zu konzentrieren, sollten wir lieber überlegen, was sich mit den noch vorhandenen Restseh-Fähigkeiten anstellen lässt.
Mit neu entwickelten Methoden lassen sich die Hirnfunktionen verändern und so die lange als irreversibel betrachteten Folgen von Sehverlusten bekämpfen. Diese Verfahren basieren auf dem neu entdeckten Prinzip der neuronalen Plastizität oder Hirnplastizität. Es beschreibt die Fähigkeit des Gehirns, den Sehverlust teilweise auszugleichen. Die Neurowissenschaften haben hier große Fortschritte gemacht; heute gibt es mehr Behandlungsoptionen für Augenerkrankungen als jemals zuvor. Diese neue Perspektive der Hirnforschung rechtfertigt frische Hoffnung für blinde und sehbehinderte Patienten.
Dass sich unser Hirn an neue Erfahrungen anpassen kann, ist mittlerweile gut belegt. Wir tun das immer, wenn wir etwas Neues erlernen. Ähnlich ist es, wenn sich das Gehirn an einen Sehverlust anpasst. Zwar verstehen wir noch nicht ganz, wie genau dass erreicht wird, doch durch diese Anpassungsfähigkeit hat das Gehirn das Potenzial zu einer erstaunlichen Erholung seiner Leistungsfähigkeit. Diese Erkenntnis eröffnet Chancen zur Behandlung von Sehbehinderung und Blindheit, wie es sie bisher nicht gab. Das Gehirn ist ein wichtiger Partner bei der Behandlung von Sehbehinderungen aller Art. Man kann inzwischen viel mehr tun, als Sie vielleicht glaubten, um visuelle Funktionen zu verbessern und den vorhandenen Schaden psychisch besser zu bewältigen. Sie müssen lediglich wissen, wo diese neuen Erkenntnisse zu finden sind. Und Sie müssen bereit sein, dazuzulernen. In diesem Buch bringe ich Informationen aus den verschiedensten Wissenschaftsbereichen mit meinen klinischen Erfahrungen zusammen. Es liegt nun bei Ihnen, genügend Bereitschaft, Geduld und Energie aufzubringen, um zu lernen, was Sie alles für ihr Sehvermögen tun können.
Der Buchtitel Wieder sehen ist bewusst doppeldeutig gehalten. Einerseits bezieht er sich darauf, dass Sie ihr verbliebenes Sehvermögen (das Restsehen oder Residualsehen) verbessern können, indem Sie Ihren Hirnverstärker einschalten oder neu justieren, und zwar selbst dann, wenn sich Ihr Sehvermögen schon seit vielen Jahren nicht mehr gebessert hat.
Andererseits fordert Wieder sehen eine neue Sichtweise. Sie können lernen, mit dem Sehverlust besser umzugehen. Auch hier geht es um das Gehirn, das ja nicht nur visuelle Eindrücke verarbeitet, sondern auch Ihre Gefühle und Gedanken kontrolliert.
In den vielen Jahren meiner Forschung habe ich gelernt, wie das Gehirn auf Sehverluste in oft erstaunlicher Weise reagieren kann und wie es sich an den Schaden anpasst. Aber es ist mir auch immer wieder aufgefallen, mit welcher zutiefst pessimistischen Einstellung dem Blindsein begegnet wird. Dabei geben neueste Forschungsergebnisse viel Anlass zu Optimismus. Den »da-geht-gar-nichts«-Pessimismus können wir getrost in die Tonne treten.
Aber dieser Pessimismus zieht sich durch die gesamte Gesellschaft. »Schon das Adjektiv ›blind‹ hat oft einen negativen Beigeschmack«, bemerkt das Royal National Institute of Blind People, eine gemeinnützige Einrichtung mit Sitz in London. Wir sprechen von »blinder Wut«, sind »blind vor Liebe« oder »blind vor Eifersucht«. Dieses negative Denken zementiert den Pessimismus, der bei dem Thema Sehverlust oder Erblindung vorherrscht. Er lähmt unseren Antrieb, nach Wegen zu suchen, dem Sehverlust beizukommen. Diese negative Haltung muss sich ändern. Wir müssen das Problem der Sehbehinderung neu und anders angehen, wir müssen den Mut haben, umzudenken und den Sehverlust aus einem völlig neuen Blickwinkel zu betrachten. Wir brauchen ein neues Sehen, eine neue Einstellung.
Den meisten Menschen ist gar nicht klar, dass das Gehirn die bemerkenswerte Fähigkeit hat, sich selbst zu reparieren. Am besten lässt sich das bei Patienten beobachten, bei denen sich die Sehkraft spontan erholt.
Selbst wenn der natürliche Heilungsprozess nach Wochen oder Monaten eine natürliche Grenze erreicht, gibt es eine Chance, das Sehvermögen zu verbessern. Ich erinnere mich noch gut an einen fünfzigjährigen Türken, der seit drei oder vier Jahren an Depressionen litt und zur Behandlung in meine Praxis kam. Er war nach einem Autounfall plötzlich stark sehbehindert, da seine beiden Sehnerven verletzt worden waren, also die Strukturen, die Sehimpulse vom Auge zum Gehirn weiterleiten. Er hatte schon verschiedene Ärzte in der Ukraine, Deutschland und Italien aufgesucht. Aber überall hörte er nur, es sei nichts mehr zu machen. »Sie haben keinerlei Sehvermögen mehr«, hatte man ihm gesagt. »Die Nerven sind dauerhaft geschädigt, es gibt keine Chance auf Besserung.«
Nachdem mein Team ihn mit einer neuen Methode zur Sehkraftverbesserung behandelt hatte, bei der niederschwellige Ströme verabreicht wurden, verbesserte sich seine Lesefähigkeit schrittweise. Auch das Nebelsehen, das seine Restsehleistung zusätzlich beeinträchtigte, verschwand langsam. Er konnte wieder Zeitung lesen und sich viel sicherer bewegen. Abgesehen davon hatte die Behandlung auch einen bemerkenswerten psychischen Effekt: Er wurde optimistischer und fand zu einer positiven Lebenseinstellung zurück.
Die neuen Methoden der Sehkraftverbesserung sollten nicht nur Spezialisten und Forschern vorbehalten sein. Sie sollten vielmehr, und zwar in allgemein verständlicher Form, auch den vielen Millionen Sehbehinderten und ihren Familien zugänglich sein. Darum habe ich dieses Buch geschrieben: Es soll das Bewusstsein für Sehbehinderungen schärfen und Therapie-Möglichkeiten zeigen, die Anlass zur Hoffnung geben.
Dieses Wissen ist recht neu. Wundern Sie sich also nicht, wenn Ihr Arzt skeptisch auf diese Methoden der Sehkraftverbesserung reagiert. In der Wissenschaft, besonders in der Medizin, denkt man konservativ. Aus gutem Grund: Empfiehlt ein Arzt Maßnahmen, deren Wirkung nicht belegt ist oder die unerwünschte Nebenwirkungen haben, können die Folgen verheerend sein. Ein Arzt will seinen Patienten zwar helfen, ihre Krankheiten zu behandeln, doch er muss auch Schaden abwenden.
Der Nachteil dieser konservativen Einstellung ist, dass manche Ärzte neuen Verfahren gegenüber zögerlich sind, selbst wenn deren Nutzen durch klinische Tests belegt ist. Daher sollte sich jeder Patient verantwortlich dafür fühlen, sich durch Bücher und Internet so gut wie möglich zu informieren. Ständig werden neue wissenschaftliche Erkenntnisse publiziert, und es kann lange dauern, bis medizinische Neuheiten ihren Weg in die ärztliche Praxis finden. Ergreifen Sie also selbst die Initiative, seien Sie aufgeschlossen und optimistisch, suchen Sie relevante Informationen, tragen Sie alle noch so kleinen Details über Ihre Erkrankung zusammen und sprechen Sie mit ihrem Arzt darüber.
Wie einmal ein amerikanischer Patient bemerkte, bei dem die Sehkraft durch den grünen Star schleichend abnahm: »Ich war es leid, ständiger Zeuge zu sein, wie sich mein Sehvermögen immer weiter verschlechterte. Also habe ich es mit einer neuen Behandlungsmethode probiert, und ich bin sehr froh darüber. Allerdings bin ich auch ein halbwegs aufgeklärter und risikofreudiger Mensch, und mir ist klar, dass die meisten das nicht sind.«
Die ersten Maßnahmen zum Erhalt der Sehkraft sollten lange vor dem Zeitpunkt beginnen, an dem Ihnen die ersten Einschränkungen auffallen. Entscheidend ist es, den Empfehlungen Ihres Augenarztes zu folgen und regelmäßig Ihre Augen untersuchen zu lassen. Vor dem 65. Geburtstag sollte diese Kontrolle alle zwei bis fünf Jahre stattfinden und danach etwa alle ein bis zwei Jahre. Bei Krankheiten wie dem Glaukom, einer der Hauptursachen für Blindheit, kann es nämlich bis zu etwa zehn Jahren dauern, bevor der Sehverlust überhaupt bemerkt wird. Zu diesem Zeitpunkt ist aber ein gewisser Schaden vielleicht bereits eingetreten und lässt sich mit traditionellen Behandlungsverfahren nicht mehr umkehren. Wird das Glaukom, das oft durch erhöhten Augeninnendruck verursacht wird, jedoch rechtzeitig erkannt, können Augentropfen das Fortschreiten der Erkrankung verlangsamen oder gar stoppen. Deshalb sind regelmäßige Augenkontrollen der Schlüssel zum Erhalt eines guten Sehvermögens.
Sehverluste begegnen uns in verschiedensten Formen und Ausprägungen. Sie können von einem Prozent Sehverlust bis zur hundertprozentigen Blindheit reichen. Komplette Erblindung ist selten, »schwarzblind« sind nur wenige. Oft verfügen Menschen, die als vollständig blind gelten, über einen Sehrest, der etwa die Wahrnehmung von hell und dunkel oder von groben Umrissen erlaubt. Anstatt also in einem Schwarz-Weiß-Muster zu denken, das nur zulässt, dass man entweder blind ist oder sehen kann, ist es realistischer und auch optimistischer, sich auf das verbleibende Restsehvermögen zu konzentrieren.
Durch unseren türkischen Patienten und viele ähnliche Fälle wissen wir, dass es inzwischen sehr viele Möglichkeiten gibt, das Sehvermögen zu verbessern. Nach über drei Jahrzehnten Forschung verfügen wir über neue Methoden, mit denen sich die Sehkraft teilweise wiederherstellen lässt, und wir verstehen deutlich besser, wie Auge und Gehirn kooperieren, um Schaden zu kompensieren und Sehverluste zu reparieren.
Es gibt »Licht am Ende des Tunnels«. Dieses Buch stellt Ihnen völlig neue Ideen und Erkenntnisse zum Umgang mit dem Sehverlust und zu neuen Behandlungsformen vor. Sehverlust ist nicht nur eine Sache des Auges, sondern auch eine des Gehirns. Wir brauchen deshalb jetzt eine ganzheitliche Sichtweise auf den Sehverlust und seine Behandlung. Die Erkrankung zu verstehen – aus der Perspektive von Auge und Gehirn – hat in medizinischer Hinsicht zwar Vorrang, doch das psychische Wohlbefinden des »Menschen hinter den Augen« ist ebenso wichtig. Wie Sie sich mit Ihrem Sehverlust fühlen und wie Sie mit der neuen Situation umzugehen lernen, beeinflusst ihre Lebensqualität beträchtlich.
Wichtig ist jedoch vor allem: Konzentrieren Sie sich auf das, was Sie noch haben, und nutzen Sie Ihre verborgenen Potenziale. »Schau auf deine Fähigkeiten – nicht auf deine Einschränkungen.« Darum geht es in diesem Buch: herauszufinden, wie Sie Ihr Sehvermögen verbessern und »erfolgreich blind« sein können.
Die Deutsche Fassung des Buches finden sie hier im Link.